„Unsere Führungskräfte sind Menschen, die sich über Ihre Arbeit außerordentlich viele Gedanken machen“ – meinte unlängst der Geschäftsbereichsleiter eines Oberösterreichischen Industriebetriebs am Rande einer Teamklausur.
Sie stehen tagein, tagaus in der Brandung zwischen internen und externen Anforderungen und haben laufend widersprüchliche Interessen und Ziele unter einen Hut zu bringen. Und dann kommt in den allermeisten Fällen noch das ganz normale Tagesgeschäft dazu …
Doch wann bleibt dann wirklich noch Zeit, sich über die eigene Arbeit „Gedanken“ zu machen? Und sind „Gedanken“ das geeignete Instrument, das sie wesentlich weiter bringt?
Loslassen …
Von Martin Luther heißt es, zentrale Erkenntnisse seines Lebenswerkes seien ihm auf der Toilette zuteil geworden – und nicht am Schreibtisch seiner Studierstube.
Ähnliches berichten Musikerinnen und Musiker, die nach langem und intensivem Üben eine Pause einlegen. Schon nach einer kurzen Unterbrechung liegt das Instrument wieder ganz neu und ganz anders in der Hand und die Takte, an denen zuvor so hart gearbeitet wurde, fließen plötzlich wie von selbst aus den Fingern.
Tänzerinnen kennen das auch. Handwerker, Künstlerinnen, Autoren. Und Menschen, die von sich sagen, sie seien in einer besonders brenzligen Situation noch einmal „mit einem blauen Auge davongekommen“. Sterbende auch, die sich nichts mehr vormachen und ihre Prioritäten klar geordnet haben.
Vor Jahren hatte ich die Geschäftsführung eines profitablen Dienstleistungsunternehmens neu zu besetzen. Der Eigentümer legte besonderen Wert darauf, die in Frage kommenden Kandidatinnen und Kandidaten auf ihre Krisenfestigkeit zu überprüfen. Denn wer bereits einmal eine wirklich dramatische Situation erlebt habe, führe mit ruhigerer Hand und könne sich und das eigene Verhalten in Extremsituationen besser einschätzen.
… und Veränderung zulassen: Raum schaffen für Neues!
Dabei geht es in all diesen Fällen bestenfalls nebenbei um „Gedanken“ im eigentlichen Sinn. Alle diese Phänomene haben viel mehr mit einer Form von Selbstorganisation zu tun, die sich einstellen kann, wenn günstige Rahmenbedingungen gegeben sind.
Es sind gerade die Grenzbereiche zwischen hoch engagiertem Einsatz (Sinnieren, Üben, „Führen“) und entspanntem beiseite Legen eben dieser Kraftanstrengung. Matthias zur Bonsen nennt diese förderlichen Rahmenbedingungen „Strukturen am Rande des Chaos“.
Wenn sich Führungskräfte in ihrer täglichen Arbeit (und nicht in der komfortablen Seminarraum-Atmosphäre eines noch so guten Trainings) immer wieder einmal in diesen Grenzbereichen aufhalten, leisten sie ihren allerbesten Beitrag für eine lebendige Organisation.
Mensch, trau dich!
Ja, es erfordert Mut, sich aus der vermeintlichen Sicherheit scheinbar bewährter Strukturen heraus in die weite Landschaft des freien Geistes zu wagen. Gewohnte Pfade zu verlassen, sich auf die Sache und die beteiligten Menschen aus ganz neuer, ungewohnter Perspektive einzulassen.
Sich darüber „Gedanken machen“ ist wie Koffer packen. Die eigentliche Reise beginnt, wenn wir Veränderung zulassen, uns mutig dem Neuen aussetzen und auf die „Fruchtbarkeit am Rande des Chaos“ bauen.
Das gilt nicht nur für Führungspersönlichkeiten im engeren Sinn.
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